Berlin, June 2021, posted by Claudio Steinmeyer
L.O.B. Forschungsseminar:
Die Wissenschaft und die Wahrheit
Beitrag von Claudio Steinmeyer am 06 Mai 2021
Tour durch einige psychoanalytische Bezüge auf die
christliche Religion in den Werken von Freud / Lacan (leidende Subjekt,
Nächstenliebe, Barmherzigkeit, u.A.)*
Wenn man Lacans Text über "Wissenschaft und
Wahrheit" als Ziel nimmt, hat man in dem Umfeld natürlich auch diverse
andere wichtige Texte, die sich damit befassen, wie die Psychoanalyse und die Religion,
bzw die christliche Religion, zueinanderstehen.
Sowohl Freud als auch Lacan haben sich jeweils mit
unterschiedlichen Stilen und Positionen mit der Thematik auseinandergesetzt.
Freud fokussierte sich eher auf die Religion und Kirche als
väterliche Institution (Totem und Tabu, Massenpsychologie) und somit auf den
dogmatischen Teil der Religion (Das Unbehagen in der Kultur). Im Vergleich zu
Lacan vielleicht auch mit einer kritischeren Sichtweise. Lacan befasste sich
auch mit Religionen, insbesondere über seine Diskurse, Liturgie und Kunst, um
neue Wege für die Artikulation der Psychoanalyse zu finden.
Mit unserem Blick auf den Begriff des „leidenden Subjekts“,
den Lacan in dem Text, mit dem wir uns heute beschäftigen, in den Mittelpunkt
der religiösen Erfahrung stellt, könnten wir Freuds „Das Unbehagen in der
Kultur“ als Ausgangspunkt nehmen (1).
Freud beschäftigt sich dort lange mit der Präposition „Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Er behauptet, dieses Gebot sei mit Sicherheit älter als das
Christentum. Meiner Meinung nach (und klar, ich habe keine theologische
Ausbildung) gibt es dort eine Grauzone.
Zunächst ist es keines der zehn Gebote wo der Nächste doch
erscheint aber auf andere Weise: „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten
aussagen, Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst
nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen,…….“
Um die Formulierung „Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst“ zu finden, müssen wir zu den Evangelien gehen, bzw. das Neue
Testament.
In diesem Rahmen fahren wir mit dem Apostel Paulus fort:
Wenn Sie nicht in der Lage sind, sich selbst zu lieben, können Sie Ihren
Nächsten nicht lieben, und wenn Sie Ihren Nächsten nicht lieben können, können
Sie Gott nicht lieben.
Dieses Konzept der Nächstenliebe ist von besonderem
Interesse, da Lacan später in zwei Texten darauf zurückkommen wird: Seminar XX
und Fernsehen.
Aber bleiben wir weiter bei Freud: Er sagt, der andere
verdiene sogar eher meinen Hass.
Er fragt sich, warum ich meine kostbare Liebe verschwenden solle.
Es wäre sogar unfair, wenn ich alle gleich lieben würde, weil meine Leute meine
Liebe als Demonstration der Präferenz schätzen würden.
Aber dann macht er eine sehr wichtige Bemerkung: Die Liebe
sei ein Werkzeug, dessen Hauptfunktion, von der Natur in jeder Weise
begünstigt, die Erhaltung der Art sei (Objekttrieben). Im Gegensatz dazu stünde
beispielsweise der Hunger, ein Vertreter der Triebe, zu welchem das Individuum,
das Einzelwesen, sich hingibt. (Ichtriebe)
Und nach einer langen Auseinandersetzung in Bezug auf die
Liebe und seine Schuldgefühle stellt er schließlich fest, dass "deinen
Nächsten lieben" für das Individuum wohl eher Unglück bedeutet, dass es
aber ermöglicht, das Kollektive (die Kultur) aufzubauen.
Jetzt etwas weiter mit Lacan.
In Seminar VII widmet Lacan dieser soeben besprochenen
freudschen Dialektik zur Nächstenliebe ein ganzes Kapitel. (2)
Er sagt, dass Freud mit dem Problem des Genusses des
Anderen, mit dem Jenseits des Lustprinzips und mit der natürlichen Tendenz des
Menschen zum Bösen, zur Grausamkeit und Gewalt konfrontiert wird.
Während des gesamten Kapitels scheint Lacan damit beginnen
zu wollen, eine neue These einzuführen, nämlich: Der Analytiker operiert, in
der Kur, nicht aus Liebe zu seinem Nächsten, sondern aus einer ganz anderen,
neuen Motivation heraus: das Begehren des Analytikers.
Zu dieser Zeit fand auch der Diskurs an die Katholiken
statt, den er 1960 in der Universität von Saint-Louis in Brüssel gab. (3)
Lacan setzt weiter fort, Brücken zum katholischen Diskurs
aufzubauen.
Hier bezieht sich Lacan (der übrigens einen soliden
Jesuitenhintergrund hatte) auf das Gebot, "deinen Nächsten wie dich selbst
zu lieben" als das, was es ist: ein Gebot, das erst in den Evangelien
erscheint und Teil des Neuen Testaments ist.
Und Lacan weist auf das Problem der Ambivalenz in dieser
Liebe hin: Denn diese wird immer von Hass begleitet. Dieser Hass macht den
Anderen, den Nächsten, für uns zum Fremdesten ( Zadig-Tagung zum Thema).
Dann haben wir das Seminar XX, an dem wir das ganze Jahr
gearbeitet haben. Es ist ein Text, der sicherlich auch als moderne Abhandlung
über die Geschichte des Christentums gelesen werden könnte. In Kapitel VIII
"Wissen und Wahrheit" geht Lacan auf die Nächstenliebe, jedoch die
Nächstenliebe in Freud, ein. Und diese Freudsche Nächstenliebe bezeichnet er
sie als Barmherzigkeit: "Ist es nicht, bei Freud, Barmherzigkeit, erlaubt
zu haben dem leidenden Subjekt …. dass es Unbewusste gibt…“ (4)
An dieser Stelle können wir mit unserem zentralen Text
fortfahren.
Wir befinden uns heute an einem dramatischen Zeitpunkt, ein
Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit, an dem die Corona-Pandemie der
Wissenschaft und der Psychoanalyse Hauptrollen verliehen hat (aber auch der
Magie und Religion). Es ist daher ein besonders fruchtbarer Moment, unsere
Position noch einmal von der Magie und Religion zu unterscheiden.
In diesem Sinne, Lacan äußert im Text (5), dass Religion und
Magie gegenüber der Wissenschaft im Schatten stehen, nicht aber für das
leidende Subjekt, mit dem wir uns befassen wollen. Und sagt, dass dies nicht
nur Erleichterung in der Religion oder Magie sucht, sondern auch die
Psychoanalyse betrifft.
Was geschieht also, wenn diese leidenden Subjekte und ihre
Hilferufe sich exponentiell vermehren? Dies geschah tatsächlich in Zeiten
außergewöhnlicher sozialer Umwälzungen z. B. nach den beiden Weltkriegen oder
als Folge wirtschaftlicher Zusammenbrüche oder derzeit aufgrund der Pandemie.
Die Psychoanalyse steht erneut vor der Herausforderung einer
kollektiven Aktion.
Kann die Psychoanalyse ihr Handlungsfeld über die Praxis
hinaus auf das soziale Umfeld ausweiten und solidarische Unterstützung anbieten?
Wenn wir die Definitionen der Wohltätigkeit / bzw.
Barmherzigkeit in der Enzyklopädie überprüfen, fällt Folgendes auf:
a) Im Christentum:
wird es als eine theologische Tugend bezeichnet, die darin besteht, Gott über
alle Dinge zu lieben und den Nächsten wie sich selbst zu lieben. Das ist etwa
was wir gerade aufgearbeitet haben.
b) Haltung der
Solidarität mit dem Leiden der Anderen.
Die Barmherzigkeit der Kirche auf diesem leidenden Subjekt
zeigt sich durch eine Reihe von Merkmalen, wie z.B:
-Die Orientierung nach dem Prinzip: ‘liebe Gott und deinen
Nächsten wie dich selbst’. Das bedeutet dann mitunter eine gewisse Transitivität
der Liebe, die bei keinem bestimmten Objekt (bevor Gott) Halt macht. Dadurch
verschwindet zum Teil der Wert der Kontingenz im Leben.
-Eine Hilfe, die darauf basiert, etwas zu geben: Essen,
Unterkunft, Bedeutung, Versprechen, Liebe.
Zusammenfassend und in Fortsetzung unseres Textes stellt
Lacan das religiöse Handeln so dar, dass sie die subjektive Teilung ignoriert,
die für die Psychoanalyse wesentlich ist:
In der Religion bedeutet Offenbarung eine Verleugnung der
Wahrheit-als-Ursache. Der Gläubige überlässt die Last der Ursache Gott, sperrt
dadurch aber seinen eigenen Zugang zur Wahrheit.
Dies bedeutet nicht, dass es keine Auswirkungen auf das
leidende Subjekt gibt, es kann eine Linderung von Angstzuständen geben, es kann
eine Verringerung der Hoffnungslosigkeit geben, aber das Subjekt wird sich
seiner Position in der Struktur weiterhin nicht bewusst sein. Also anders als
in der Psychoanalyse wo ein gewisses Begehren zum Wissen im Spiel ist.
Schauen wir uns nun diese zweite Definition an (also
Barmherzigkeit als Haltung der Solidarität mit dem Leiden des Anderen) , indem
wir sie in ihre Teile zerlegen. In Bezug auf das Leiden Anderer gibt Lacan
einen sehr genauen Hinweis darauf, was die Psychoanalyse mit dem leidenden
Subjekt macht, nämlich: seine grundlegende, strukturelle Teilung, nicht zu
ignorieren:
„In der Psychoanalyse müssen wir immer die Aufteilung des
Subjekts als Ausgangspunkt haben…. An jenem Fehlen des Penis der Mutter, an dem
sich die Natur des Phallus offenbart.
Das Subjekt ist hier gespaltet, sagt uns Freud, angesichts der Realität
...“(5)
Lacan beschäftigt sich weiter mit der Barmherzigkeit in
seinem Text „Fernsehen“(6), als er die Rolle des Heiligen mit dem Analytiker in
Verbindung bringt.
Der Analytiker erlaubt dem Subjekt des Unbewussten, sich als
Objekt der Übertragung, der Wahrheit-als-Ursache nehmen zu lassen: d.h. ein
Heiliger zu sein, der Un-barmherzigkeiten praktiziert. Psychoanalytische Barmherzigkeit bedeutet
also, einen Mangel zu geben, einen leeren Ort, der aber auf den Anderen
gerichtet ist, aber insbesondere bedeutet nicht ETWAS zu geben und vor allem
keinen Sinn zu geben, der den Weg des Begehrens blockieren könnte. Oder
zumindest nicht alles geben. Das sagt J.-A. Miller in seinem Buch “Der
Partenaire-Symptom”. Wohltätigkeit,
meint Miller, sollte auch kein Weg sein,
den anderen kontrollieren zu wollen, indem man seinen Begehren auf ein Anspruch
des Nezessäres herabsetzt (7)
Unser Solidaritätsvorschlag wird eine Orientierung suchen,
die das Reale berücksichtigt, wo der Analytiker sich dazu eignet, vom Phantom
des Subjekts in der Übertragung genommen zu werden.
Ein Reales, auf dem man ein Wissen aufbauen kann. Man
fördert einen anderen Aspekt der Liebe, in dem man etwas aus dem Genuss ins
Begehren verwandelt.
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LITERATUR
1) Freud, S. „Das Unbehagen in der Kultur“ – 1930. Kap. 5
bis 8
2) Lacan, J. „Seminar-Buch VII- Die Ethik der Psychoanalyse“
- 1960- Kap. 14 „Die Nächstenliebe“
3) Lacan, J. „Der Triumph der Religion“ (1960) – Einleitung:
Der Diskurs an die Katholiken - (auf
Deutsch im Turia Verlag)
4) Lacan, J „Seminar – Buch XX – Encore“ (1973) – Kap VIII:
Das Wissen und die Wahrheit – Turia Verlag
5) Lacan, J. „Schriften II“ – Kap: Wissenschaft und Wahrheit
(1966) – Turia Verlag
6) Lacan, J
„Radio und TV” – Kap. Fernsehen (1973), Ab: “Ein Heiliger sein“ –
Anagrama Verlag
7) Miller, Jacques-Alain, „Der Partenaire-Symtom“ , (1997),
Paidos Verlag, Buenos Aires, Argentinien
*mit lieben Dank an Julia und Diana Steinmeyer für die
Korrekturen und Kommentare
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